J. Willms: Charles de Gaulle und sein Jahrhundert

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Titel
Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert


Autor(en)
Willms, Johannes
Erschienen
München 2019: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
XXIV, 640 S.
Preis
29,95 €
von
Philip Rosin, Abteilung Zeitgeschichte, Konrad-Adenauer-Stiftung

Ob als Namensträger des Hauptstadtflughafens, eines Flugzeugträgers oder mit in fast allen Dörfern und Städten vorhandenen Strassen «des 18. Juni [1940]» oder «des 25. August [1944]», Charles de Gaulle hat in der Geschichte Frankreichs Spuren hinterlassen – die von ihm begründete Fünfte Republik prägt seit mehr als 60 Jahren die Politik des Landes. Die Hintergründe schildert der Journalist und Frankreichexperte Johannes Willms in seiner gut lesbaren und mit prägnanten de Gaulle-Zitaten bestückten Biografie über «de[n] General». Zwar kann er keine grundstürzend neuen Ergebnisse beisteuern, fasst aber die Grundthemen und die Charaktereigenschaften des Mysteriums de Gaulle anschaulich zusammen und liefert somit ein insgesamt überzeugendes Porträt seines Protagonisten.

Charles de Gaulle wurde 1890 in Lille geboren und wuchs in einem katholisch-konservativen Milieu auf, das der Monarchie nachtrauerte und der Dritten Republik mit Skepsis begegnete. Er schlug eine militärische Laufbahn ein und absolvierte die Offiziersschule. Wie so viele junge Männer auf beiden Seiten der Front wollte er sich im beginnenden Ersten Weltkrieg bewähren. Bei einem von ihm befehligten, «tollkühn[en] und militärisch unsinnig[en]» (S. 23 f.) Sturmangriff Mitte August 1914 wurde er schwer verletzt, nach längerer Genesungszeit kehrte er an die Front zurück, geriet aber bei Beginn der Verdun-Schlacht Anfang März 1916 in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Zu Beginn der 1920er Jahre wurde der Weltkriegsheld Marschall Pétain zu de Gaulles Förderer, später sollten der Protagonist von «Vichy» und der Anführer des «freien Frankreichs» zu erbitterten Rivalen werden. Im Jahr 1940 konnte de Gaulle der militärischen und politischen Niederlage zunächst nur hilflos zusehen, doch wollte er sich mit ihr nicht abfinden und floh nach London. Premierminister Churchill hatte in dem jungen Brigadegeneral zunächst nur einen «nützlichen ‘Beifang’» (S. 76) gesehen, aber da sich kein namhafterer Repräsentant fand, wurde de Gaulle zur Stimme des «freien Frankreichs». In seiner berühmten Radioansprache aus London setzte er am 18. Juni 1940 erstmals effektiv das Mittel der politischen Rede ein, das während des Krieges und später als Präsident zu seinem Markenzeichen werden sollte. Anschaulich beschreibt Willms den Kampf de Gaulles um Anerkennung und Selbstbehauptung gegenüber Briten und Amerikanern, mit US-Präsident Roosevelt, der ihn gegenüber Churchill nur als «Primadonna» bezeichnete, verband ihn eine tiefe Abneigung. Umso erstaunlicher und zugleich beeindruckender war es, dass de Gaulle am 25. August 1944 als der allseits anerkannter und umjubelter Repräsentant Frankreichs in Paris einziehen und wirkungsvoll den Mythos von der angeblichen Selbstbefreiung inszenieren konnte.

Der relative frühe Abgang des Generals Anfang 1946, der sich als Befreier des Vaterlandes nicht mit den für die Vierte Republik bald typischen parteipolitischen Querelen herumschlagen wollte, erwies sich laut Willms perspektivisch als Vorteil, denn er «verfügte über einen unbeschädigten Nimbus» und wurde nicht mit den zunehmenden Problemen des Landes in Verbindung gebracht. Je stärker Frankreich in die Krise schlitterte, desto stärker galt de Gaulle als «ein Messias auf Abruf» (S. 317).

Es war insofern folgerichtig, dass der Kriegsheld 1958 ein zweites Mal auf die Bühne trat, um Frankreich zu «retten». Es brauchte freilich eine veritable Krise wie den Algerien-Krieg, der mit dem Aufstand französischer Offiziere in Algier auf das Mutterland überzugreifen drohte, um diese Situation herbeizuführen. Nun handelte de Gaulle für sich optimale Bedingungen aus, das Parlament verzichtete temporär auf seine Mitwirkungsrechte, und in wenigen Monaten konnte eine stark auf den Präsidenten zugeschnittene Verfassung erarbeitet werden, die den Einfluss der Parteien begrenzte – bei aller Kritik sollte sie sich in den kommenden Jahrzehnten als sehr effektiv erweisen und dem Land eine bis dahin nicht gekannte Stabilität bringen.

Zu Beginn standen der Algerien-Krieg und seine inneren Folgen im Fokus. Mit der Mehrheit der Forschung geht Willms davon aus, dass de Gaulle die Aufgabe Algeriens schon bei Amtsantritt 1958 fest im Blick hatte und, dass er die Algerienfranzosen und Militärs, die ihn wesentlich an die Macht zurückgebracht hatten, mit seinem berühmten «Je vous ai compris» bewusst im Unklaren liess. Die Franzosen unterstützten de Gaulle gleichwohl bei seinem schrittweisen Weg zur Beendigung des Krieges. Die Attentate, die ehemalige Militärs der Untergrundorganisation OAS auf ihn verübten, beförderten die Mythenbildung weiter.

Neben der krisenhaften Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses mit dem französischen Präsidenten in der «Hauptrolle» und dem Weg der deutsch-französischen Aussöhnung mit dem bundesdeutschen Bundeskanzler Adenauer widmet sich Willms auch der Aussenpolitik der «Grandeur». Hier kommt der Autor zu einer sehr negativen Bewertung. Der Präsident habe viel Porzellan zerschlagen und wenig erreicht, sei es bezogen auf den Austritt aus der militärischen Struktur der NATO über den Kurswechsel in der Nahostpolitik hin zur aufsehenerregenden Kanada-Reise mit dem provokanten Ausruf «Vive le Quebec libre». Das Urteil, die de Gaullesche Aussenpolitik sei «ein durch Überschätzung des französischen Machtpotentials verursachter Irrtum» (S. 507) gewesen, ist dennoch übertrieben. In Verbindung mit der neuen «force de frappe» gelang es de Gaulle durchaus, Frankreich auf die Weltbühne zurückzuführen. Und bezogen auf das Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten und zur Sowjetunion mit einem «Europa vom Atlantik bis zum Ural» war er ein früher Vordenker der DétentePolitik.

Entscheidend für das vorzeitige Ende seiner Herrschaft war jedoch die Innenpolitik, wo ein gewisser Reformstau, Defizite in der Hochschulpolitik und ein Generationenkonflikt zusammenkamen, so dass Frankreich im Mai 1968 am Rande eines Umsturzes stand. Allerdings gelang es de Gaulle nach einer Schockphase noch einmal, mit einer mitreissenden Ansprache, der Mobilisierung seiner bürgerlichen Unterstützer und einer Kabinettsumbildung das Blatt zu wenden. Doch nur wenige Monate später zog er sich nach einem verlorenen Referendum enttäuscht ins Privatleben zurück.

Was Willms in seinem Bismarck-Porträt nicht geglückt war, nämlich den Protagonisten aus seiner Zeit heraus zu verstehen und ihn entsprechend gerecht zu beurteilen, ist ihm beim «General» und dessen Verständnis vom «ewigen Frankreich» deutlich besser gelungen.

Zitierweise:
Rosin, Philip: Rezension zu: Willms, Johannes: Der General. Charles de Gaulle und sein Jahrhundert. Biographie, München 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 375-377. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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